[Grimms Märchen in Korea] Ein Prachtexemplar von Frosch

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Aus Kindern werden Subjekte: Die Rezeption von Grimms Märchen in Korea spiegelt die Emanzipation des Landes von den japanischen Kolonialherren.

Von Steffen Gnam

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Grimms Märchen sind Erbauungsliteratur und Selbstermächtigungsgeschichten, auch im fernen Korea. „Schneewittchen“, die vielfache Tode starb, und „Aschenputtel“ als Geschichte asymmetrischer Machtstrukturen dienen als allegorische Spiegel für die Leidensgeschichte des koreanischen Volkes in der kolonialen Moderne. Die Zeitschrift „Fabula“ (Band 62, 2021, Heft 1/2, herausgegeben von Ahn Mi-Hyun, Kim Yeon Soo und Alfred Messerli / De Gruyter) verfolgt die Rezeption der Grimm-Märchen in Korea als Unterhaltungs-, Aufklärungs- und Anklageschriften. Koreanische Germanistinnen erörtern wärmende, wachrüttelnde und emanzipatorische Aspekte der Kinder- und Hausmärchen von der japanischen Kolonialzeit (1910 bis 1945) über die Wirtschaftswunderära und das „Erziehungsfieber“ bis hin zur heutigen überalterten Gesellschaft. Seit der ersten Übersetzung eines Grimm-Märchens 1913 benutzte man bis 1945 japanische Ausgangstexte, später dienten englische Übersetzungen als Vorlagen. Erst 1975 erschien die erste vollständige und auf deutschem Ausgangstext basierende Übersetzung von Kim Chang-Hwal.

Der Essay „Grausamkeiten in Grimms Kinder- und Hausmärchen“ von Kim Yeon Soo schildert die Zwanzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts als Gründerzeit der koreanischen Grimm-Rezeption. Prägend wirkten Übersetzer und Intellektuelle wie Choi Nam Seon und Bang Jeon Hwang, die in Japan studiert hatten. Infolge der Unabhängigkeitsbewegung von 1919 gab es zeitweilige Reformen, eingeschlossen eine Lockerung der Zensur. Grimms Märchen in Jugendzeitschriften wie „Eorini“ (Kinder), die Bang 1923 gründete, waren zugleich Übersetzungen so­zialer Schmerzerfahrungen. Bang setzte sich für Kinderrechte ein, für die Aner­kennung von Kindern als Individuen. Dieser Aktivismus ließ Hoffnung auf das zukünftige autonome Subjekt er­kennen. Bang rief in Korea auch zum Sammeln lokaler Fabeln im Sinne der Grimms auf: Analog zur Selbstaffirmation der Deutschen unter Napoleon ebnete Volkspoesie in Korea den Weg zur modernen Nationsbildung.

Die böse Stiefmutter ist unbekannt

Kim macht Strategien uneigentlicher Re­­de ebenso hinter wörtlichen wie hinter entschärften Übersetzungen aus: Märchen wurden als camouflierte An­klageschriften der Grausamkeit der Ko­lonialherren gelesen oder, humoristisch abgemildert, als Satiren auf die Herrschenden. Die Leidensgeschichte von „Aschenputtel“ wurde 1923 in Choi Nam Seons Zeitschrift Dongmyeong („Ex Oriente Lux“) übersetzt, wobei die Geschichte in Seoul spielt und Aschenputtel Kyung-Hee heißt. Kaum vermittelbar ist indes die Figur der bösen Stiefmutter: Eine tötende (Stief-)Mutter, legt Kim dar, sei in Korea undenkbar; das koreanische Mutterbild entspreche eher der treusorgenden Mutter Geiß aus „Der Wolf und die sieben Geißlein“.

Kim Nam Hui untersucht „Übersetzungen als Mittel der Befreiung und Modernisierung“ in den Zwanzigerjahren am Beispiel des Märchens vom Froschkönig. Auch er erfuhr Mutationen. Von Übersetzungen der genannten Choi (1923) und Bang (1924) unter dem Titel „Der Froschprinz“ (in Korea war der König der bürgerlichen Welt vollständig enthoben, deshalb kennt man in Korea das Märchen unter diesem Na­men) hebt sich die Übersetzung „Der Frosch-Sinseon“ (1926) von Sim Eu Rin durch ihre Originalität ab: Der Frosch wird kulturell assimiliert. Er ist kein be­liebiger verhexter Prinz aus einem nicht näher bestimmten Land, sondern das himmlische Wesen Sinseon aus der taoistischen Tradition. Der Sinseon-Frosch verwandelt sich proaktiv, um die Prinzessin mit in den Himmel zu nehmen, und ist zu seiner Rückverwandlung auch nicht darauf angewiesen, an die Wand geworfen zu werden.

Jin Sukyoung beschreibt unter der Überschrift „Endlich den ganzen Grimm“ die jüngere Publikationsgeschichte. In den Achtzigerjahren setzte das „Erziehungsfieber“ ein. Zur Befriedigung des Wunsches, Kindern früh Englisch beizubringen, kamen viele eng­lische Ausgaben auf den Markt. Im Zuge der Alterung der Gesellschaft werden die Kinder- und Hausmärchen als „Weltliteratur“ mit Ratgeberqualitäten für Erwachsene beworben. So werden „Die Bremer Stadtmusikanten“ als Weg­­weiser aus der Alterskrise genutzt.

Die Sehnsucht der nunmehr erwachsenen Grimm-Leser nach dem „ganzen Grimm“ befriedigen drei neue Gesamtübersetzungen. Erstmals zweifelsfrei vom deutschen Originaltext geht die von Kim Kyeong-Yeon übersetzte Ausgabe „Die Volkserzählungen der Brüder Grimm“ im Verlag Hyeonamsa von 2012 aus. Der Volkskundler Kim Yeol-Kyu will mit „Grimms Märchen für Er­wachsene“ (2015 im Verlag Hyundai Jisung) gern übersehene „unethische und unmoralische Faktoren“ berücksichtigen. „Grimms Märchensammlung“ im Verlag Dongseo Munwhasa (Ost-West-Kultur), vom Germanisten Kumunsup 2016 übersetzt, empfiehlt sich auch wegen der Kommentare des Ver­legers Ko Jung Il zur Kulturgeographie der interkontinentalen Märchenstraße.

Hase und Igel, Krebs und Fuchs

Shin Hyun Sook untersucht die Illus­trationen in koreanischen Ausgaben. Während die Pose der Königstochter im Märchen „Der Froschprinz“ 1923 in der Zeitschrift „Dongmyeong“ Ernst Liebermanns Illustration aus „Scholz‘ Künstler-Bilderbüchern“ von 1908 imitiert, orientiert sich Hong Seong-Chan in der Szenenauswahl einer Märchenanthologie von 1964 an Moritz von Schwind. Ein hybrides Illustrationskonzept verfolgen die genannten „Volks­erzählungen der Brüder Grimm“: Bilder der Künstlerin Park Eunji stehen hier gleichberechtigt neben klassischen Il­lus­trationen aus der Grimm-Ausgabe des Winkler-Verlags von 1963. Parks Markenzeichen sind knorrige, blattlose Bäume mit verknoteten Stämmen.

Ahn Mi-Hyun resümiert die wissenschaftliche Rezeption der Märchen in Korea. Komparatisten entdeckten beim Vergleich deutscher („Der Hase und der Igel“) und koreanischer („Wettlauf des Krebses und des Fuchses“) Märchen verwandte Themen. Zu nennen sind das Motiv des unerschöpflichen Vorrats, wobei Begierden das Ökosystem konterkarieren („Simeliberg“ kontra „Der Fels, der Reis spendet“), christliche Helferfiguren versus Berggötter, der in West wie Ost beliebte Cinderella-Stoff und der Topos des in Krisensituationen auf sich gestellten Kinderpaars.

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